Teich/Danner Nr.76
1. Ein König lebte sechzig Jahr
auf dieser schönen Erden.
Da sprach zu ihm ein weiser Arzt:
„Sollst hundert Jahre werden!“
Nun blieb der König kerngesund,
die Zeit, sie strich vorüber.
Der König wurde achtzig Jahr',
Selbst neunzig und noch drüber.
Doch als er beinah' hundert war,
bisher vom Glück umworben,
da traf den König ein Malheur:
Sein Arzt ist ihm gestorben!
2. Als Klärchen einst acht Jahre war,
bekam sie einen Bruder.
Sie sprach voll Stolz: „Ich bin acht Jahr
und Du so'n kleines Luder!“ -
Doch als der Bruder zwanzig war,
da sprach das kluge Klärchen:
„Wir beide stehn im gleichen Jahr,
Wir sind ein Zwillingspärchen!“
Die Zeit verschwand, doch niemand fand
für dieses Klärchens Hand sich.
Jetzt ist der Bruder vierzig alt
und sie ist - neunundzwanzig.
3. Jüngst sagte ich zu einer Maid:
„Dir soll mein Loblied gelten,
denn du bist jung und tugendhaft
und sowas trifft man selten!“
„Ach“, sagte da das Mägdelein,
„Was hab' ich von der Jugend?
Die Jugend, sie entschwindet schnell,
doch ewig bleibt die Tugend!“
Da küßte ich das Mägdelein
und schon nach ein paar Stunden
besaß sie nur die Jugend noch -
die Tugend war verschwunden.
4. Ich kannte einst 'nen Mann, der war
beim Essen äußerst peinlich.
Er aß kein Obst, weil mancher Spatz
daran gepickt wahrscheinlich.
Weil's mit der Hand gebacken war,
hat er kein Brot gegessen.
Er aß kein Fleisch - ihn hat's geniert,
was oft die Tiere fressen.
Ein Hühnerei - mit Appetit
hat er's zu sich genommen.
Wie gut, daß man ihm nicht verriet,
woher das Ei gekommen!
5. Ein Mädchen, sehr emanzipiert,
das sprach: „lch will studieren!
Will alles wissen und der Welt
werd' ich dann imponieren!“
Sie sprach: „lch bin kein schwaches Weib!
kann mich mit Männern messen!“
Da kam ein hübscher Jüngling her
und alles war vergessen!
Sie wollt' der ganzen Welt gefall'n
und sie gefiel nur Einem!
Sie wollt' es zu 'was Großem bring'n
und bracht' es zu was Kleinem!