Der Prophet
Original-Vortrag von Otto Reutter
Teich/Danner Nr. 170
(Der Vortrag kann auch ohne Kostüm aufgeführt werden und es ist ratsam, in diesem Falle Auftrittslied und Deklamation wegzulassen)
Auftrittslied
Ich wünsch' guten Abend – ich komm' jetzt heraus,
fantastisch gekleidet – doch lacht mich nicht aus:
bitte sehr – ich bin mehr,
wie die Damen und Herr'n rings umher,
denn ich bin der Prophet für das kommende Jahr –
vor mir liegt die Zukunft ganz offen und wahr.
Nun gebt acht – wie's gemacht,
was ich alles für später erdacht.
Deklamation
Mein hochverehrtes Auditorium –
die Zeit vergeht – ein Jahr ist bald herum –
und unwillkürlich denkt man – es ist klar:
wie mag es werden wohl im nächsten Jahr?
Ich will den Schleier lüften, darum hört
von mir, was uns das nächste Jahr beschert.
Gebt alle acht! In meinem wundervollen
Couplet will ich die Zukunft jetzt entrollen.
Ich weiß, dies ist ein kühnes Unterfangen –
doch schwör' ich: Ehe noch ein Jahr vergangen,
ist alles schon zur Wirklichkeit geworden,
was ich bericht' vom Westen, Süden, Norden –
kurz – alles, es wird stimmen. Es wird passen –
und wer sich darauf verlässt, der – – ist verlassen!
Couplet
1.
Ein Jahr geht bald zu Ende,
mit schaudern denk ich dran.
Bevor wir's uns versehen,
bricht's neue Jahr heran.
Was mag wohl dann passieren?
's wär herrlich, auf mein Wort,
das Gute müsste bleiben,
das Schlechte müsste fort.
Das wär was Wunderbares
im Laufe des nächsten Jahres.
2.
Im Lauf des nächsten Jahres –
die Kunde fällt mir schwer –
gibt's wiederum in Deutschland
manch Eisenbahn-Malheur.
„Wir kriegen Doppelgleise,“
ruft der Minister dann.
Doch tritt man nach 6 Wochen
'ne neue Reise an,
geht's allgewohnter Weise
doch steht's im alten Gleise.
3.
Im Laufe des nächsten Jahres
nimmt mancher alte Mann
ein hübsches, junges Weibchen –
bald kommt der Hausfreund an.
Im Laufe eines Jahres
ist dann ein Junge da.
Sieht der das alte Männchen,
dann ruft er froh: „Papa!“
Nun wird's wohl jedem klar sein:
wenn der's sagt, muss es war sein.
4.
Im Lauf des nächsten Jahres,
im wunderschönen Lenz,
packt wiederum in Holland
die Friedenskonferenz.
Die Herren aller Länder
kann man beisammen seh'n.
Sie trinken auf den Frieden
und beim nachhause geh'n
Frag'n Sie beim letzten Schoppen:
„Wen woll'n wir jetzt verkloppen?“
5.
Im Lauf des nächsten Jahres
kommt wieder aus der Fern'
die große Sarah Bernhardt,
in Deutschland ist sie gern.
Sie hat die deutsche Sprache
erlernt jetzt voll und ganz,
und singt Sie alle Tage:
Heil dir im Siegerkranz!
Wird sie die Marseillaise,
dann wird die Sarah böse.
6.
Im Lauf des nächsten Jahres
kauf' ich mir 'n Aut'mobil.
Mit solcher Kraftmaschine,
da kommt man schnell zum Ziel.
Doch wird mir's zu gefährlich,
dann Schenk ich's meinem Freund.
Der Mann, der ist verheirat't
und hat's mir gemeint:
„Das wäre so ein Futter
für meine Schwiegermutter.“
7.
Im Lauf des nächsten Jahres,
ihr deutschen – gebt acht –
da ist der Reichstag wieder
auf unser Wohl bedacht.
Wenn man auch oft die Taten
im Reichstag dort vermisst,
so wird doch viel beraten,
was zu beraten ist –
in drei verschied'nen Serien –
und dann komm'n gleich die Ferien.
8.
Im Lauf des nächsten Jahres,
da hoffe ich bestimmt,
das endlich mal die Fleischnot
bei uns ein Ende nimmt.
Drum hab' nur keine Bange,
geliebtes Publikum,
es laufen auch in Deutschland
noch viele Schweine rum.
Doch leider gibt's auch Schweine,
die hab'n zu wenig Beine.
9.
Im Lauf des nächsten Jahres,
O Bülow, freue dich –
wirst du mit neuen Titeln
beehrt ganz sicherlich.
Du avancierst wie Bismarck –
erst Kraft und dann ein Fürst –
ich glaub', das du wie Bismarck
auch bald ein Herzog wirst.
Jedoch es ist gescheiter –
kopierst ihn nicht mehr weiter.
10.
Im Lauf des nächsten Jahres,
da wird's die höchste Zeit,
dass Alfons sich in Spanien
schnell 'ne Prinzessin freit.
Er sucht Sie sich nicht selber –
ihm bleibt sie unbekannt –
das macht der Herr Minister,
der zieht mit ihm durch Land,
zeigt dann auf 'ne Gewisse
und sagt zu ihm: „Das isse!“
11.
Im Lauf des nächsten Jahres,
da sagt die Königin
zum Prinzgemahl in Holland:
„Geh' mal zum Storche hin,
sag ihm, er mög' uns endlich
'nen Jungen bringen nun.
Geh hin, mein liebes Männchen,
du hast doch nichts zu tun.
Mit den Regierungssachen –
das könnt'ste wirklich machen.“
12.
Im Lauf des nächsten Jahres
gibt's Pleiten und Ruin. –
Da streiken viele Leute,
besonders in Berlin.
Man Streit an allen Enden –
und endlich geht zum Schluss
der Oberbürgermeister
zu seinem Sozius –
und Kirschner sagt zum Reike:
„Mach' du's Geschäft – ich streike!“
13.
Im Lauf des nächsten Jahres –
ich sag es ungeniert,
der wird die freie Ehe
in Deutschland eingeführt.
Die Frau sagt dann zum Manne:
„Du, Männchen, hör mal zu – Zeile wenn du mir jetzt nicht treu bist,
dann mach ich's so wie du –
das ist bei mir der Brauch so –
bist du so, bin ich auch so.“
14.
Im Lauf des nächsten Jahres
im Mai, wenn's Wetter schön,
sagt Fritz zu seiner Liese:
„Lass uns ins Freie geh'n.“
Sie sagt: „Mein liebes Fritzchen,
ich lieb nur dich allein.“
Erfasst Sie um die Taille,
da fängt sie an zu schrei'n:
„Hör auf, ein liebes Fritzchen,
macht keine Kinkerlitzchen.“
15.
Im Lauf des nächsten Jahres –
es ist ganz offenbar –
da gibt's Ministerkrisen
Grad wie im vor'gen Jahr.
Vielleicht geht Podbielski.
Vielleicht geht Herr von Studt –
man kann's vorher nicht wissen,
was lange währt, wird gut.
Ach, denkt der Herr von Möller,
bei mir da ging es schneller.
16.
Im Lauf des nächsten Jahres –
ich möchte Wetten drauf –
gibt's wieder Hundesperre,
die hört ja selten auf.
Die armen Hunde müssen
dann an der Leine geh'n,
Sie möchten gar zu gerne
doch mal alleine geh'n.
Denn auch das kleinste Hündchen
hat mal ein schwaches Stündchen.
17.
Im Lauf des nächsten Jahres,
da führt der Delcassée
aus Frankreich gegen Deutschland
'ne riesige Armee.
Mit lauter Engeländern.
Mit 100.000 Mann
durchschreitet er die Grenze
und greift die Deutschen an.
Ich wette, er verhaut se –
jedoch nur mit der Schnauze.
18.
Im Lauf des nächsten Jahres
nehm ich 'ne Frau ins Haus.
Ich kenne hier zwei Mädchen
und such' mir Eine aus.
Marie ist brav und niedlich,
doch daran mangels ihr
(Pantomime des Geldzählens)
die and're heißt Cäcilie,
zwei Kinder – aber hier!
(Pantomime des Geldzählens)
ich nehm mir die Cäcilie,
da hab' ich gleich Familie.