Wir werden's noch erleben!
Original-Couplet von Otto Reutter
Teich/Danner Nr. 222
1.
Wir leben heutzutage
in einer schweren Zeit.
Wir werd’n noch viel erleben,
viel Leid und wenig Freud’.
Wir werden’s noch erleben:
’s wird bei der nächsten Wahl
viel Sozialisten geben –
die Wahl, die macht uns Qual.
In Baden und in Sachsen,
da seh’n Sie, wie sie wachsen.
2.
Wir werden’s noch erleben:
Schauspiel und Varieté
gehn runter vom Theater
Rin in die Heilsarmee
erst kürzlich im Theater
da sprach der Dramaturg:
„Hier, Fräulein, bitte lesen
Sie mal die Rolle durch.“
Da sprach das fromme Wesen:
„Ich muss den Kriegsruf lesen.“
3.
Wir werden’s noch erleben:
wohin wir später seh'n,
da werden alle Leute
nur noch auf Rollschuh'n gehn.
Auch auf der Bühne roll'n Sie
und fallen in dabei.
Doch ich steh still und rolle.
Bei meiner Rollerei
bin ich nie hingeflogen,
ich roll' bloß mit de Oogen (Augen).
4.
Wir werden’s noch erleben:
's kam aus Paris der Spaß –
man zahlt bald im Theater
die Gesetze nur nach Maß,
fertig ist, derzeit doppelt
kommt dann das Publikum,
dann sagt der Herr Kassierer:
„Erst dreh'n Sie sich mal rum.“
Komm ich in seine Nähe,
sagt er: „Der zahlt für zweee“
(Der Vortragende kann bei dieser Strophe eventuell auf eine korpulente Person im Zuschauerraum zeigen und singen: Kommt der seine Nähe, sagt er: „Der zahlt für zweee“)
5.
Wir werden’s noch erleben,
daß unsre Damenwelt
die vielen falschen Haare
nicht auf dem Kopf behält.
Wenn nächstens in’s Theater
’ne Dame gehen tut
da find’t sie zwei Garderoben:
die eine für den Hut,
für Pelz- und Mantel-Ware –
und eine für die Haare.
6.
Wir werdens noch erleben:
Der Flora-Büstenstreit,
ob falsch, ob echte Büste –
erstreckt sich noch sehr weit
Heut’ sagt ich zu mei’m Schätzchen:
„Wenn wir uns wiederseh’n,
da möchte ich dich gerne
mal ohne Mieder seh’n.
Ich bin ein Pessimiste,
ich zweifle an der Büste!“
7.
Wir werden’s noch erleben,
daß jeder doppelt liebt,
weil es auf dieser Erde
mehr Frau’n als Männer gibt.
Auf jeden Mann komm’n zweie.
Ich lieb’ jetzt die Marie
die hat ’ne schöne Freundin
die wohnt hier vis-à-vis.
Wenn ich mir die noch hole,
dann hab' ich 'ne Triole.
8.
Wir werden’s noch erleben:
Jetzt will, das find’ ich schön,
bei jedem achten Jungen
der Kaiser Pate steh’n –
Nun krieg’n wir viel Soldaten.
Als jüngst der Storch gebracht
drei Jungen gleich auf einmal,
hat’s Vatern Spaß gemacht.
„Das flutscht!“ sprach er und lachte,
„je schneller kommt der achte.“
9.
Wir werden’s noch erleben:
mit uns, da geht’s zu End.
Der Mann hat nichts zu sagen,
die Frau führt’s Regiment.
Die sagt schon bei der Hochzeit:
„Ich hab’ die Hosen an!“
Wenn wir das eine sagte,
sagt’ ich als Ehemann:
„Laß uns man bloß nach Haus’ zieh'n –
ich werd’ sie Dir schon auszieh'n!“
10.
Wir werden’s noch erleben,
wenn sich die Frau mokiert,
dann geht der Mann in’s Wirtshaus,
wo er sich amüsiert.
Da sitzt er jeden Abend.
Sagt sie dann: „Bleibe hier,
und geh’ nicht in die Kneipe –
Was hab’ ich denn von dir?“
Dann sagt der alter Sünder:
„Du hast von mir – die Kinder!“
11.
Wir werden’s noch erleben:
als Schlager der Saison
macht man die Hochzeitsreise
jetzt bald im Luftballon.
Der Segen kommt von oben,
denn so ein Hochzeitspaar
bleibt wochenlang da droben –
mitunter auch ein Jahr.
Beim Abfahr'n sind es zweier,
beim Wiederkomm'n sind's dreie.
12.
Wir werden’s noch erleben:
1. gab's in Köpenick
'nen falschen Hauptmann heute
gibt's manchen andern Trick.
Es gab schon falsche Richter,
ja, schließlich wird man seh'n,
das falsche Ehemänner
zu manchen Weibchen gehn.
Die find't das gar nicht schlechter,
die falschen sind oft echter.
13.
Wir werden’s noch erleben:
die Warenhäuser hier,
die werden immer größer.
Verlängern ihre Revier,
hier von der Leipz'ger Straße –
in kurzer Zeit geschieht's –
kauft eine Seite Wertheim –
die and're kauft der Tietz
und jeder ruft: „Kommt hier rein
und geht nicht vis-a-vis rein.“
(Diese auf Berlin gemünzte Strophe kann leicht lokalisiert werden)
14.
Wir werden’s noch erleben:
Herr Bethmann, der Major,
der kommandiert den Reichstag
wie ein Soldaten-Chor.
Wenn Oldenburg zu weit geht
im Eifer des Gefechts,
dann heißt es: „Stillgestanden“,
„Achtung“ und „Augen rechts“.
Will Ledebour parlieren,
dann heißt's: „Ihr könnt euch rühren!“
15.
Wir werden’s noch erleben:
Man füttert jetzt ein Schwein
mit rotgefärbter Gerste –
das find’ ich gar nicht fein.
Wenn wir das Fleisch gegessen,
dann werd’n wir selber rot.
Wenn einer mir so’n Schwein bringt
ruf’ ich „Schockschwerenot,
Ich schwärm’ bloß für die Schweine –
die Farbe friß alleine.“
16.
Wir werden’s noch erleben:
Was Gerhart Hauptmann wagt,
das tun bald alle Dichter.
Der Hauptmann hat’s gesagt.
’s trägt jeder seine Werke
selbst vor, so gut er’s kann.
Am Varieté sind nächstens
der Haupt- und Suder-mann*,
der Blumenthal** und Fulda*** –
und ich steh’ wie ’ne Null da.
17.
Wir werden’s noch erleben:
Vom ganzen Erdenrund
die ältsten Balletteusen
geh’n in den Tugendbund.
Das ist dann für Herrn Roeren****
vom Zentrum ein Genuss.
Der bravsten Balletteuse
gibt er zum Lohn ’nen Kuß.
Denn einen Kuß von Roeren,
den kann kein Mensch verwehren.
18.
Wir werden’s noch erleben:
Ein Leutnant und zehn Mann
komm’n in den nächsten Tagen
im Reichstag plötzlich an,
hau’n Singern***** auf die Fingern,
vermöbeln Bebeln dort
und kleben an die Türe
ein großes Schild sofort:
„Zu Ende sind die Possen –
der Reichstag ist geschlossen.“
19.
Wir werden’s noch erleben:
Es dauert noch kein Jahr,
wird auch die Luft besteuert,
die jetzt noch gratis war.
Holt einer dann tief Atem,
ruft der Ex’kuter aus:
„Sie, halten Se mal die Luft an.“
und nimmt die Rechnung raus.
„Bevor Se nichts berappen
gibt’s keene Luft zu schnappen!“
20.
Wir werden’s noch erleben,
daß neue Steuern komm’n.
Zum Herr’n Finanzminister,
da sagte ich beklomm’n:
„Wir werden’s noch erleben,
Sie nehmen immer mehr,
wir werden’s noch erleben –
WIR geb’n Ihn’n alles her.
Doch daß Sie uns was geben,
das werd’n wir nie erleben!“
* Oscar Blumenthal (1852-1917), Schriftsteller
** Hermann Sudermann (1857-1928), Schriftsteller
*** Ludwig Fulda (1862-1939), Schriftsteller
**** Hermann Roeren (1844-1920), Jurist und Reichstagsabgeordneter
***** Paul Singer (1844–1911) Reichstagsabgeordneter, Mitbegründer und Vorsitzender der SPD