Teich/Danner Nr.115
1.
In früherer Zeit hat uns Großmütterlein
die ältesten Märchen erzählt.
Doch ich kenn‘ ‘ne Großmutter unserer Zeit,
die and‘re Geschichten erwählt.
„Rotkäppchen, Schneewittchen“, so seufzt sie schwer,
„die passen für unsere Zeiten nicht mehr!“
Drum wählt sie die Märchen modern,
so haben‘s die Kinder sehr gern.
Dann sagen sie abends beim Dämmerschein:
„Erzähl‘ uns Geschichten, lieb‘s Großmütterlein!“
2. Großmütterlein hat ‘ne Geschichte erzählt:
Es war mal ein Mann und ‘ne Frau,
die fuhren zusammen im Automobil,
da klappte nun alles genau.
Sie fuhr‘n niemand um - kein Malheur ist geschehn –
der Wagen, der blieb nicht ein einzig‘ Mal stehn
und ‘s Schönste war an der Maschin‘:
Sie hatte Parfüm statt Benzin.
Da sprachen die Kinder: „Die Geschichte war fein,
erzähl‘ uns noch eine, lieb‘s Großmütterlein!“
3. Großmütterlein hat ‘ne Geschichte erzählt:
Ein Fräulein bekam ein Klavier.
Da freuten sich alle - sie spielte zwar falsch,
doch spielte sehr laut sie dafür.
Und spielte und sang sie zur nächtlichen Zeit,
dann hab‘n sich die Nachbarn am meisten gefreut.
Und als sie dann zog aus dem Haus,
da zogen sie alle mit aus.
Da sprachen die Kinder: „Die Geschichte war fein
erzähl‘ uns noch eine, lieb‘s Großmütterlein!“
4. Großmütterlein hat ‘ne Geschichte erzählt:
Zur Ehefrau sprach einst der Mann:
„Wenn du recht verschwiegen, erzähl‘ ich dir was!“
„Ich schweige“, so sprach sie alsdann.
Von ihrer Erzfeindin erzählt ihr dann
‘ne heikle Geschichte der Ehemann
und was sie vernommen dort hat,
erfuhr - kein Mensch in der Stadt.
Da sprachen die Kinder: „Die Geschichte war fein
erzähl‘ uns noch eine, lieb‘s Großmütterlein!“
5. Großmütterlein hat ‘ne Geschichte erzählt:
Ich kenne ‘ne bildhübsche Frau.
Die ist gar nicht eitel, Brillanten und Schmuck
verschmäht sie, das weiß ich genau.
Und trotzdem ihr Wuchs und die Taille enorm,
trägt sie eine ganz plumpe Kleiderreform,
und auf ihrem Kopf, es ist wahr
‘nen Hut vom vergangenen Jahr.
Da sprachen die Kinder: „Die Geschichte war fein
erzähl‘ uns noch eine, lieb‘s Großmütterlein!“
6. Großmütterlein hat ‘ne Geschichte erzählt:
‘ne Dame war einst beim Ballett,
die liebt ‘nen Baron und der schenkt ihr dafür viel
Schmucksachen herrlich und nett.
Doch bald liebte sie einen Grafen schon,
da ging mit den Schmucksachen sie zum Baron.
Sie sagte: „lch brach dir den Schwur,
drum bring ich dir alles retour!“
Da sprachen die Kinder: „Die Geschichte war fein
erzähl‘ uns noch eine, lieb‘s Großmütterlein!“
7. Großmütterlein hat ‘ne Geschichte erzählt:
Es war mal ein Unt‘roffizier,
der gab den Soldaten fast all seinen Sold,
schenkt‘ ihnen Zigarren und Bier,
war freundlich und milde zu jedem Rekrut.
Er sagte nur immer: „Ach, sei‘n Sie so gut!“
Und gab jeden Abend zum Schluß
‘nem jeden Soldaten ‘nen Kuß.
Da sprachen die Kinder: „Die Geschichte war fein
erzähl‘ uns noch eine, lieb‘s Großmütterlein!“
8. Großmütterlein hat ‘ne Geschichte erzählt:
Es war einmal ein Musikant,
der trank niemals Bier, so was ist doch ein Hohn
für den ganzen Musikerstand.
Jüngst aß er ‘nen Hering und ist in der Nacht,
vom Durste gepeinigt, ganz plötzlich erwacht.
Da brachte man Bier ihm daher -
doch er soff die Waschschüssel leer.
Da sprachen die Kinder: „Die Geschichte war fein
erzähl‘ uns noch eine, lieb‘s Großmütterlein!“
9. Großmütterlein hat ‘ne Geschichte erzählt:
Ein Kellner serviert einem Gast.
Der Gast trank zwei Bier, gab dem Kellner zehn Mark
und ging hierauf fort voller Hast.
Seitdem läuft der Kellner von Haus zu Haus:
„Wo ist bloß der Mann, der kriegt Geld wieder raus?“
Und weil er ihn nicht mehr erblickt,
da wurde der Kellner verrückt.
Da sprachen die Kinder: „Die Geschichte war fein
erzähl‘ uns noch eine, lieb‘s Großmütterlein!“
10. Großmütterlein hat ‘ne Geschichte erzählt:
Es saßen vier Burschen beim Wein -
der erste aus Hamburg, der zweite aus Wien,
der dritte aus Köln an dem Rhein.
Die drei renommierten sehr laut mit Gebrüll.
Der vierte indes war bescheiden und still.
„Wo bist du denn her?“ frug man ihn.
Da sprach er verschämt: „Aus Berlin!“
Da sprachen die Kinder: „Die Geschichte war fein
erzähl‘ uns noch eine, lieb‘s Großmütterlein!“
11. Großmütterlein hat ‘ne Geschichte erzählt:
Ein Mädchen war schon zwanzig Jahr,
trotzdem ganz naiv, hat von gar nichts gewußt,
verlobt war sie auch schon sogar.
Doch eines Tag‘s stürzt sie zur Mutter herein:
„Das Schlimmste geschah“, fängt sie an zu schrei‘n,
„der Fritz hat ‘nen Kuß mir spendiert,
O Gott, wenn mir nur nichts passiert!“
Da riefen die Kinder: „Du lügst, nun halt ein,
brauchst nichts mehr erzählen, lieb‘s Großmütterlein!“