Die vier Patienten
Original-Couplet von Otto Reutter
Teich/Danner Nr. 168
1.
Vor kurzer Zeit da hat ich
'nen sonderbaren Traum.
Mir träumt', ich wär' ein Doktor
und käm' zum Warteraum.
Dort saßen vier Patienten.
Die Sache war kurios –
Ein Engeländer und ein Russ' –
ein Deutscher, ein Franzos'.
Zuerst kam der Franzose,
der sprach: „Ich bin nervös.
Auch heiser bin ich oft, Monsieur,
Mon Dieu! Tut mir die Kehle weh!“
Ich sprach „Dein ganzes Leiden
kommt vom Revanche-Geschrei.
Du weißt doch schon von Siebzig her,
's kommt nicht viel raus dabei.
Erst tobst und schreist du fürchterlich –
und nachher übergibst du dich.
Dein Leiden ist alt, weil's von siebzig herrührt,
da hab'n dir die Preußen was weg amputiert,
Nun kriegst du die Tobsucht, zwei-, dreimal im Jahr,
doch die Umgebung kommt nicht in Gefahr!"
2.
Nun ging ich zu dem Russen,
der schrie und stöhnte sehr –
Ich sagte: „Bleib' nur sitzen,
dir fällt das Gehen schwer.
Du hatt'st das gelbe Fieber
durch Japan lange Zeit –
obwohl das nun vorüber ist,
bist du sehr krank noch heut.
Ich muß dich operieren,
sagt' ich – und hab's getan.
„Herr Gott“, so rief ich da voll Graus,
„Wie sieht's in deinem Innern aus?
Das gärt an allen Enden,
ganz blutarm liegst du da.
Du hast ja Schwindsucht, Brand und Krebs
und Pest und Cholera.
Die Glieder streiken nach und nach –
und ach – dein Haupt ist gar so schwach.
Dein Leiden ist schlimm, denn du kannst kaum noch geh'n.
Du musst mehr ins Freie – denn die Freiheit ist schön!
Dann kommst du in and're Verfassung, mein Sohn –
aber sonst gibt’s ne Eruption“.
3.
Jetzt kam der Engeländer,
der schrie „Bin ich ne Null?
Goddam! sagt schnell, was fehlt mir?
Mein Name ist John Bull.“
Ich sagte: „Nur langsam,
dann komm'n wir auch zum Ziel.
Ob dir was fehlt? Im Gegenteil,
mir scheint, du hast zuviel.
Du bist ja ganz geschwollen,
hast wohl die Wassersucht?
Ja, auf dem Wasser scheinst du groß,
am Land ist wen'ger mit dir los.
Hast auch sehr lange Finger –
du greifst damit zu weit –
Und dann – die Gelbsucht hast du auch –
John Bull – das kommt vom Neid.
Auch bist du nicht ganz schwindelfrei
und kriegst den Größenwahn dabei!
Dein Leid ist groß – kennst kein Maß und kein Ziel.
Du leid'st an Verstopfung – du frißt viel zu viel.
Dein Magen ist klein, gib die Hälfte ihm bloß –
und dein Maul ist entschieden zu groß“.
4.
Nun ging ich zu dem Deutschen,
zu sehen, ob er krank.
Der Kerl war eingeschlafen
und schnarchte auf der Bank.
Ich weckte ihn – und gähnend
hat er mir dann erzählt,
er hieße Michel und er möcht'
gern wissen, was ihm fehlt.
In dem Moment da sah er
dort die drei andren steh'n.
Da sprang er auf und sprach kein Wort,
und bückte sich in einem fort –
und vor dem Engeländer
macht er 'nen Extra-Knicks.
Der aber schaute drüber weg
und tat, als säh' er nix.
Da sagt ich: „Michel nun ist's gut,
jetzt weiß ich, was dir fehlen tut.
Dein Leiden ist klein, das kurieren wir schon –
du hast nur die englische Krankheit, mein Sohn.
Steh' stramm, lieber Michel und bücke dich nie,
denn du bist gesünder als die.“